CDU am Abgrund: Roderich Kiesewetter will „russische Hegemonie über Syrien“ bekämpfen

Logo DFG VK blau quadratisch EntwurfRoderich Kiesewetter will gegen den „Islamischen Staat“ und die syrische Armee kämpfen, um eine „russische Hegemonie über Syrien“ zu verhindern

Der Dokumentarfilmer John Pilger produzierte 2003, sechs Monate nach der USInvasion in den Irak, den Film „Breaking The Silence: Truth And Lies In The War OnTerror“, in dem er die Vorgeschichte der Attentate des 11. September 2001 und ihren Missbrauch durch die US-Regierung zur Rechtfertigung der Angriffe auf Afghanistan und Irak beleuchtet. Pilger berichtet (ab Minute 19:18), dass die Anschläge eine Chance für eine Gruppe einflussreicher Personen geboten hätten, welche – selbst gemessen an Standards der Republikaner der damaligen Zeit – extrem gewesen seien. Ray McGovern, pensionierter Senior Analyst der CIA, sagt in dem Film (ab Min. 19:30, eigene Übersetzung) über diese Gruppe:

„Dieselben Leute, die jetzt die US-Politik bestimmen, sind diejenigen Leute, die von dem Vater des Präsidenten (also von Präsident George Bush Senior – Anm. d. V.) auf Abstand gehalten wurden. In den Kreisen, in die ich kam, als ich auf höchstem Nachrichtendienstund Strategieniveau Berichte (an den Präsidenten – Anm. d. V.) lieferte, nannte man sie „die Verrückten“ (...). Wenn man über „die Verrückten“ sprach, wusste jeder, wer gemeint war: Richard Perle, Paul Wolfowitz, Doug Feith, diese Typen.“

Worin bestand die „Verrücktheit“ dieser Leute? Sie dachten in reinen Machtkategorien, ignorierten das Völkerrecht, waren frei von moralischen Skrupeln, nahmen Fakten nicht zur Kenntnis und verfolgten politische Großraummodelle, von denen sie annahmen, dass sie der Sicherung einer US-geführten unipolaren Welt im 21. Jahrhundert dienten, mit allen verfügbaren medialen, politischen und militärischen Mitteln. Ihre ungeheure Macht drückt sich bis heute darin aus, dass sie trotz ihrer wesentlichen Mitverantwortung für den Angriffskrieg gegen den Irak und die folgenden Kriege, die weit über eine Million Tote verursachten, weder vor Gericht gestellt, noch politisch zur Rechenschaft gezogen wurden.

Ist es denkbar, dass im Kielwasser der Folgenlosigkeit in den USA heute auch in Deutschland „Verrückte“ schwimmen, die ähnliche Vorstellungen haben? Roderich Kiesewetter gehört zu den einflussreichsten Sicherheitspolitikern Deutschlands. Der Oberst a. D. und überzeugte „Transatlantiker“ ist Obmann für Außenpolitik der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag und Mitglied in wesentlichen außenpolitischen, militärischen und rüstungsindustriellen deutschen Gremien und Netzwerkorganisationen.

Am 10. Oktober 2016 bestätigte er gegenüber Bettina Klein im Interview des Deutschlandfunk, was kritische Beobachter seit dem Eintritt der Bundesrepublik Deutschland in den sogenannten „Krieg gegen den Terror“ am 4. Dezember 2015 vermuten: dass das eigentliche Kriegsziel in Syrien nicht die Beseitigung des Terrors oder des „Islamischen Staates“ (IS) ist, sondern die Beseitigung des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad.

Kiesewetter hält „Militärschläge der Vereinigten Staaten auch ohne Mandat des Sicherheitsrates (der Vereinten Nationen – d. Verf.) mit einer sogenannten Koalition der Willigen“ gegen die Regierung Assad „durchaus für gerechtfertigt“ (Anm. d. Verf.: nichtDer CDU-Politiker geht aber weiter. Der Sinn einer „Ablösung“ Assads liegt seiner Auffassung nach offenbar in der Durchsetzung deutscher oder „westlicher“ Territorialansprüche in Syrien, welche mit konkurrierenden Herrschaftsansprüchen, die er Russland unterstellt, nicht vereinbar wären. Wörtlich sagte Kiesewetter: „Aber nur zuzuschauen, wie Russland die Initiative ergriffen hat und quasi das gesamte Land Syrien unter seine Hegemonie bringt, das können wir auf Dauer nicht zulassen, weil wir ja auch Folgeschritte haben werden. Syrien wird ja nicht der Endpunkt der internationalen Krisenentwicklung sein und Russland schafft hier Fakten, die womöglich dann auch Anwendung in anderen Krisengebieten finden. Hier müssen wir einen Riegel vorschieben.“

Leider fragte Bettina Klein ihn nicht, warum er zu der Annahme gekommen sei, „wir“ – also vermutlich Deutschland – müssten dem „einen Riegel vorschieben“, also Krieg führen. Wer sollte nach Kiesewetters Meinung warum ein Interesse daran haben, eine verhindern? Zumal die russische, bzw. bis 1991 sowjetische Marine in Syrien schon seit 1971 einen Stützpunkt hat. Bis vor kurzem sah darin niemand in Deutschland ein Problem.

Die juristische Fragwürdigkeit dieses Unternehmens ist Kiesewetter bekannt. Er vergleicht selbst die aktuelle Situation mit dem Völkerrechtsbruch, den Deutschland 1999 mit der Teilnahme an der NATO-Bombardierung der Bundesrepublik Jugoslawien begangen hat, und sagt verharmlosend zu Syrien: „Der Punkt ist ja, ob (...) wir eine Weiterentwicklung des Völkerrechts brauchen, um dort einen Eingriff zu ermöglichen.“

Der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder entging bisher der Verurteilung für den Kosovokrieg 1999. Glaubt Kiesewetter etwa deshalb, er könne das Friedensgebot nach Völkerrecht und Grundgesetz umgehen? Und was soll „Weiterentwicklung des Völkerrechts“ genau heißen?

Fakt ist nach dem Wortlaut des Interviews: Kiesewetter will eine Hegemonie Russlands in Syrien verhindern, indem er Militärschläge der Vereinigten Staaten gegen die syrische Armee ohne Mandat des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, also unter Bruch des Völkerrechts, militärisch unterstützt. Sein Parteifreund Elmar Brok, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Europäischen Parlaments, hatte erst am 7. Oktober 2016 im ARD-Interview (ab Min. 2:27) gesagt: „Die syrische Luftwaffe hat gar keineFähigkeiten, nachts zu fliegen. Sie haben {sic!} auch keine Bomben.“ Welche Armee sollte denn nun nach Kiesewetters Meinung wirklich bekämpft werden? Die syrische Armee,  Kiesewetter plädiert aber nicht nur für kriminellen außenpolitischen Unsinn, sondern er erklärt uns auch, was er von demokratischen Entscheidungswegen hält: nämlich nichts. Wir erfahren: „Und zweitens haben wir uns immer darauf international verständigt, zuerst den IS zu bekämpfen und dann Assad abzulösen.“

Als Bundesbürgerinnen und -bürger möchten wir gerne wissen, wer sich mit wem „international“ verständigt hat. Kiesewetter mit Freunden und Familie? In Hinterzimmerkreisen? Netzwerken? Akademien? Stiftungen? Im Pentagon? Und was ist unter „immer“ zu verstehen? Etwa schon gleich nach den Anschlägen des 11. September 2001, als Paul Wolfowitz im Pentagon machttrunken die „Übernahme“ von sieben Ländern in fünf Jahren, darunter Syrien, plante, wie der ehemalige NATO-General Wesley Clark am 2. März 2007 im Interview (ab Min. 12:42) aussagte? Woher nimmt Kiesewetter die Dreistigkeit, derartige „Verständigungen“ zulasten Dritter als Privatsache zu behandeln?

Aus dem Antrag der Bundesregierung an das Parlament, die Bundeswehr in den „Krieg gegen den Terror“ schicken zu dürfen, der am 4. Dezember 2015 genehmigt wurde, wissen wir, dass die Ablösung Assads kein Kriegsziel ist, denn Assad wurde noch nicht einmal erwähnt. Die Bundeskanzlerin befand zwar nur zwölf Tage später, Assad könne „niemals Teil einer langfristigen Lösung“ in Syrien sein; das war aber eine politische Aussage, die keine Relevanz für das militärische Mandat hatte. Noch ist die Bundeswehr eine Parlamentsarmee, und sowohl die Kanzlerin als auch Herr Kiesewetter sollten sich daran halten.

Abstrus redet Kiesewetter weiter:
„Mein Eindruck ist auch aus vielen Reisen in die Region, dass die Syrer in Assad das größere Übel sehen als im IS, und ich glaube, wir müssen darauf drängen, dass Assad abgelöst wird in einem überschaubaren Zeitraum, um auch der syrischen Bevölkerung ein Zeichen zu geben, dass das eigentliche Übel Assad ist und dass man dann in einem zweiten Schritt den IS bekämpft.“

Ob erst Assad und dann der IS bekämpft werden soll oder in umgekehrter Reihenfolge, geht ihm etwas durcheinander. Aber klar scheint zu sein: er will der syrischen Bevölkerung erklären, wer das eigentliche Übel sei, nämlich Präsident Assad. Das weiß die syrische Bevölkerung eigentlich auch schon, wie Herr Kiesewetter auf seinen vielen Reisen in die Region in Erfahrung gebracht haben will. Da möchte man ihn fragen, ob er auch nach Damaskus und Aleppo gefahren ist und diejenigen Gebiete besucht hat, in denen syrische Familien auf der Flucht vor den angeblichen „gemäßigten Rebellen“ ausharren, welche die Bundesregierung offenbar seit 2012 durch militärische Aufklärung unterstützt, ohne jemals um ein Bundestagsmandat dafür ersucht zu haben.

Bettina Klein hakt nach:
„Aber wie groß ist das Risiko (...), dass man sich damit in eine Art Stellvertreterkrieg hinein begibt, dass (...) die USA sich indirekt (...) in einen Krieg gegen Russland begeben würden und damit wirklich eine Gefahr eines Weltenbrandes eingehen?“ Da ist die Antwort des Oberst a. D. Kiesewetter von bestechender Logik: „Diese Gefahr sehe ich weniger, weil wir ja leider das Phänomen des Stellvertreterkrieges dort schon haben. Saudi-Arabien und Iran haben ihre Kräfte innerhalb Syriens und auch des Iraks, und es geht jetzt hierum, humanitäre Hilfe zu leisten und humanitäre Korridore abzusichern. Das kann man nicht inmitten des Landes machen, weil dann (...) der Stellvertreterkrieg droht, sondern man muss es in der Peripherie machen. Dazu brauchen wir die Türkei, den Libanon und Jordanien. Das wäre aus meiner Sicht ein sinnvoller Ansatz, genauso wie man in den stabilen Teilen des Iraks, so wie die Bundesrepublik ja die Peschmerga im Nordirak unterstützt, von dort aus auch Initiativen starten muss, so dass man quasi von den Grenzen heraus wirkt und entsprechend militärisch abgesichert humanitäre Korridore aufbaut.“ Er sagt uns also, dass das Risiko eines Kriegs zwischen den Atommächten USA und Russland durch weitere militärische Maßnahmen gering sei, da die beiden ja in Syriensowieso schon indirekt gegeneinander kämpften.

Dieser militärische Irrsinn soll – wie Kiesewetter an anderer Stelle selbst erklärte – Russland davon abhalten, eine Hegemonialstellung in Syrien zu errichten. Von der Idee einer russischen Hegemonie war vor dem militärischen Eingreifen der Russischen Föderation im September 2015 nie die Rede. Kann es daher sein, dass es umgekehrt ist: dass „der Westen“, also die USA mit ihren wechselnden Verbündeten, eine Hegemonie über Syrien errichten wollte und Russland das aber seit 2015 eindeutig nicht zulässt? Dass der Krieg der „Internationalen Allianz“ in Syrien seit 2015 verloren ist? Dass die Bundesregierung dumm genug war, sich noch zum Schluss bereitwillig in diese Katastrophe hineinziehen zu lassen in der irrigen Annahme, wieder eigene Weltmachtpolitik treiben zu können?

Der UN-Sonderbeauftragte Stefan De Mistura hat den nach UN-Angaben 900 extremistischen Kämpfern in Ost-Aleppo am 6. Oktober 2016 persönlich freies Geleit aus Aleppo angeboten, um den Krieg zu beenden. Plädiert der Schreibtischkrieger Kiesewetter für den Kampf der „Rebellen“ bis zum letzten Blutstropfen, um die befürchtete russische Hegemonie zu verhindern? Oder unterstützt er die Initiative von De Mistura? Hat er versucht, deutsche und internationale Waffenlieferungen in das Kriegsgebiet zu unterbinden, um die Menschen in Syrien zu schützen? Oder bezweckt er die Teilung Syriens in einen zentralen russischen und einen peripheren USamerikanisch- internationalen Sektor und benutzt das humanitäre Argument kaltblütig zur Begründung einer territorialen Besatzungspolitik Deutschlands im Nahen Osten, die man nur als kriminell bezeichnen kann?

Angesichts des desolaten, hochgradig militarisierten inneren Zustands der USA und der Weigerung der russischen Regierung, ihre eigenen Machtansprüche aufzugeben, sollte die Bundesregierung in Betracht ziehen, dass jeder Schritt Europas, der weiteres Öl ins Feuer gießt, die Welt dem nuklearen Abgrund näher bringt. Die Gedankenwelt von Roderich Kiesewetter ist nicht weit von derjenigen der „Verrückten“ in den USA entfernt. Sie kann einer der vielen Funken sein, mit dem die Lunte in Brand gesetzt werden könnte.

Am 26. August 2016 interpretierte Ray McGovern die Waffenstillstandsverhandlungen zwischen US-Außenminister John Kerry und dem russischen Außenminister Sergey Lavrov als Fehlschlag und erklärte das Scheitern damit, dass nicht der Präsident, sondern das Pentagon und die CIA die US-Außenpolitik bestimmten. Die Wahrscheinlichkeit direkter russisch-amerikanischer Militärschläge gegeneinander sei hoch. Der glücklose Präsident und seine drittklassigen Berater würden die Militärmacht Russlands und dessen festen Willen unterschätzen, seine Einflusssphäre zu verteidigen. Außerdem würde Obama angesichts der Wahlen im November seinem Verteidigungsminister Ashton Carter noch mehr freie Hand in Syrien geben. Carters Generäle und Zivilbeamte hätten keinen Hehl daraus gemacht, dass sie beabsichtigten, Russland bluten zu lassen. Russland hingegen habe mehr in Syrien zu verlieren als die USA. Daher werde Russland militärisch alles tun, um die Regierung Assad zu retten und den IS zu bekämpfen, der von den USA, Israel, Saudi-Arabien, der Türkei, Katar und anderen unterstützt würde.

Quelle: http://www.friedenkoeln.de/?p=9929
Text: Stefanie Intveen, 12.10.2016 (mit geringfügigen Änderungen vom 15.10.2016).

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