Ein-Blick(e) - Lebenslinie
Die Linie 1 der Kölner Verkehrsbetriebe, mitten durch das Herz der Stadt, erscheint mir wie meine Lebenslinie. Mein ganzes Leben spielt sich an dieser Linie ab, mehrere Zuhause, Schulen, Universität und Arbeit. Viele Jahrzehnte beinahe täglich, sieht man einmal von kurzfristigen Abwesenheiten ab.
Viel Zeit, Menschen zu beobachten, mit ihnen zu tun zu haben und Erfahrungen zu sammeln. Ja wirklich, man kann in solch einem Eingeferchtsein, jeder mit einem anderen Hintergrund und anderem Ziel, Studien betreiben. Das wird mir wieder einmal bewusst, als ich nach geschlagenen 33 Minuten Wartezeit in der Kälte endlich in die ersehnte Bahn einsteigen kann, und einen der letzten Sitzplätze erhasche, nur eine Station entfernt von der Anfangsstation (Köln-West). „Wegen einer technischen Störung (auf der anderen Rheinseite) fahren die Bahnen nur in unregelmäßigen Zeitabständen. Wir bitten um Verständnis!“
Abgesprochen mit der Deutschen Bahn?! Beinahe jeden Tag wird man um Verständnis (nicht um Vergebung) gebeten, Höflichkeitsfloskeln, die nach 40 Jahren Lebenslinie befahren immer noch ärgern. Mich würde interessieren, um wie viele (Lebens-) Jahre ich insgesamt von diesen Fuhrunternehmen gebracht worden bin, wenn Zähneputzen schon durchschnittlich über drei Monate (an einem Stück!!) in Anspruch nimmt. Und da geht es nur um maximal 6 Minuten am Tag. Wie dem auch sei, heute war wieder so ein wir Wirbittenumverständnistag, entschädigt durch das Erhaschen eines der letzten Sitzplätze.
Früher einmal, gefühlt noch vor ein paar Monaten, befand ich die unzähligen I Phone und Mp3-versunkenen Mitreisenden mit ihren Stöpseln im Ohr und auf ein kleines Ding starrend regelrecht bedauernswert. OK, man soll nicht vorschnell urteilen, aber dennoch, völlig versunken entgingen denen meiner Ansicht nach wichtige Ereignisse des alltäglichen Lebens wie wunderbare Sonnenaufgänge, Tau auf den Wiesen, Schnee auf den Bäumen, nasepopelnde Autofahrer entlang der Bahnlinie, streitende oder küssende Pärchen in den Autos, Unfälle und sonstige interessante Ereignisse des alltäglichen Lebens. An Blickkontakten und Lächeln, verbaler und nonverbaler Kommunikation und sonstigen zwischenmenschlichen Augenblicksverbindungen ist die nachfolgende Generation kein bisschen mehr interessiert, außer man hat seine(n) Liebsten an der Stippe, nein, (nur noch) am Ohr, dann bekommt man sogar Dokusoap haut- und ohrnah mit. Da steht einem dann abends nicht mehr der Kopf nach weiteren Soaps und man spart dadurch viele Lebensjahre vor dem Fernseher (laut Statistik verbringt der Mensch durchschnittlich 12 ganze Jahre vor diesem Ding). Ob die Bahnunternehmen das bei den Verspätungsstatistiken mit einkalkulieren und sogar gegenrechnen?
Nun, seit nun den neusten Monaten empfinde ich die Bahnen tagsüber im 10-Minuten-Takt (wenn nicht um Verständnis gebeten werden muss) als unerträglich überfüllt, egal zu welcher Tageszeit. Sich stetig vermehrende Taschendiebe erfreut das sicherlich, die tägliche Fahrgastflut aber eher nicht. Unverhofft wird man auf den Schoß eines düster dreinblickenden Menschen gepresst, weil man den Versuch startete, „bitte weiter durchzu(d)rücken, damit die Türen schließen und wir unsere endlich Fahrt fortsetzen können“.
Mittlerweile hat man mehr Körperkontakt zu Fremden als daheim mit seinen Liebsten. Was waren das noch für Zeiten, als ich mir einmal eine Rippe in der Straßenbahn brach, da der Fahrer so rasant in die Kurve und gleichzeitig auf die Bremse ging (wegen Haltestelle), dass ich mich (sportlich und normalgewichtig, d.h. ohne ersichtliche Handicaps) nicht festgehalten bekam, obwohl ich mich festhielt.
Stangentänzerinnenanmutig schleuderte ich um eine solche Haltestange. Mein Chef wollte es mir nicht glauben, als ich mich dann zum Orthopäden anstatt ins Büro schleppte. Passiert heute auch nicht mehr, denn gottseiesgedankt kann eine Wurst nicht aus ihrer Pelle tanzen.
In Zeiten dieser Menschenströmungen sollten sich diese Menschenmassentransportunternehmen doch auch einmal einen wenigerminütigen Takt überlegen, anstatt diesen auf 33 und mehr beinahe täglich auszuweiten. Ein gegenseitiges Einstellen auf neue Begebenheiten und Realitäten, dazu werden wir aufgefordert, das müss(t)en wir alle und jeder tagtäglich hinbekommen. Wir schaffen das! Auch die Unternehmen. Kriegen andere Städte und Länder auch hin. Und wir in Köln?
Und um die Sonnenaufgänge und Co auch weiterhin genießen zu können, werde ich mir heute einen Kopfhörer besorgen, bei dem ich die Außenwelt auch einmal völlig ausblenden kann, ohrmäßig natürlich. Es bleiben dann ja vorerst noch die Blick-und Körperkontakte und ab und an ein wohl noch ein selten aufflackerndes Lächeln. Ich bitte um Verständnis.
Text: Lydia Zteid